Die Schätzung von Besteuerungsgrundlagen im Veranlagungsverfahren und ihre mittelbare Auswirkung auf die Strafzumessung im Steuerstrafverfahren
1. Einleitung
Die Besonderheit bei Steuerstrafverfahren ist im Gegensatz zu „gewöhnlichen“ Strafverfahren, dass i.d.R. zwei Verfahren, das Steuerstrafverfahren an sich und das Veranlagungsverfahren, entweder gleichzeitig nebeneinander einherlaufen oder eines der Verfahren, in aller Regel das Veranlagungsverfahren, vorangegangen war.
Das Veranlagungsverfahren dient der richtigen Erhebung von Steuern nach Maßgabe des Steuerrechts (z. B. EStG, UStG). Es soll festgestellt werden, wie viel Steuern der Steuerpflichtige tatsächlich schuldet. Das Steuerstrafverfahren dient der Ahndung strafbaren Verhaltens, insbesondere einer Steuerhinterziehung (§ 370 AO).
Die Schätzung von Besteuerungsgrundlagen im Veranlagungsverfahren ist im Steuerrecht ein zentrales Instrument, wenn Steuerpflichtige ihrer Mitwirkungspflicht nicht genügen. Zugleich entfaltet sie im Rahmen von Steuerstrafverfahren – insbesondere bei der Strafzumessung – eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Die Frage, inwieweit geschätzte Besteuerungsgrundlagen aus dem Veranlagungsverfahren mittelbar in das Strafverfahren übergehen dürfen, berührt fundamentale Grundsätze des Strafrechts, insbesondere das Schuldprinzip und den Grundsatz in dubio pro reo.
2. Die Schätzung im Veranlagungsverfahren (§ 162 AO)
2.1 Gesetzliche Grundlage und Voraussetzungen
Gemäß § 162 AO ist die Finanzbehörde berechtigt, Besteuerungsgrundlagen zu schätzen, wenn:
- der Steuerpflichtige seiner Mitwirkungspflicht nicht nachkommt,
- seine Buchführung oder Aufzeichnungen mangelhaft sind oder
- sonstige Erkenntnisse fehlen, um die Besteuerungsgrundlagen zu ermitteln.
Die Schätzung hat nach Ermessen der Behörde zu erfolgen, muss aber realitätsnah und wirtschaftlich plausibel sein. Das Finanzamt darf hierbei alle vernünftigerweise in Betracht kommenden Umstände berücksichtigen. Ziel ist es, den wahrscheinlichsten Sachverhalt abzubilden, auch wenn ein exakter Nachweis nicht möglich ist.
2.2 Schätzmethoden
Typische Schätzmethoden umfassen:
- Vermögenszuwachsrechnung
- Geldverkehrsrechnung
- Rohgewinnaufschlagsrechnung
- Zuschätzung auf Basis von Richtsätzen oder externen Betriebsvergleichen
Diese Verfahren zielen auf Plausibilität, nicht auf mathematische Exaktheit. Die Schätzung darf jedoch nicht „ins Blaue hinein“ erfolgen. Der Bundesfinanzhof betont regelmäßig, dass jede Schätzung der größtmöglichen Annäherung an die Wirklichkeit dienen muss (vgl. BFH, Urt. v. 25.3.2015 – X R 20/13). Eine Überschreitung der Schätzungsgrenzen kann zur Aufhebung des Steuerbescheids führen.
3. Die Übertragung der Schätzung ins Steuerstrafverfahren
3.1 Steuerhinterziehung gemäß § 370 AO
Steuerhinterziehung setzt voraus, dass Steuern verkürzt oder nicht gerechtfertigte Steuervorteile erlangt werden – vorsätzlich. Im Strafverfahren ist die Feststellung der verkürzten Steuerbeträge essenziell, da sie maßgeblich für die Strafzumessung sind.
3.2 Problem der Schätzübernahme
Im Strafverfahren gelten andere Maßstäbe: Anders als im Besteuerungsverfahren ist dort keine Schätzung im steuerlichen Sinne zulässig, da das Strafrecht das Schuldprinzip verlangt. Der BGH stellt klar: „Der bloße Rückgriff auf die Schätzungen der Finanzverwaltung reicht zur Feststellung der Tat nicht aus; das Strafgericht muss sich eigene Überzeugung verschaffen.“ (vgl. BGH, Beschl. v. 14.12.2007 – 1 StR 293/07). Strafgerichte dürfen daher nur sichere Feststellungen zugrunde legen. Das bedeutet jedoch nicht, dass Schätzungen vollständig ausgeschlossen sind – sie müssen allerdings im Strafverfahren eigenständig nachvollzogen, begründet und mit hoher Wahrscheinlichkeit belegt sein.
4. Die mittelbare Auswirkung auf die Strafzumessung
4.1 Strafzumessungsrelevanz der Verkürzungshöhe
Die Höhe der verkürzten Steuer ist ein, wenn nicht sogar das wesentliche Strafzumessungskriterium einer Steuerhinterziehung. Die Rechtsprechung hat Schwellenwerte entwickelt, bei deren Überschreitung von einer erhöhten Schuldschwere auszugehen ist (vgl. BGHSt 53, 71; BGH, Urt. v. 2.12.2008 – 1 StR 416/08):
- Bei einer Verkürzungssumme durch eine einzelne Tat von über 50.000 €: keine Geldstrafe mehr (besonders schwerer Fall gem. § 370. Abs. 3 S. 2 Nr. 1 AO)
- Ab einer Gesamtverkürzung von 100.000 €: Verhängung einer Geldstrafe nur bei Vorliegen von gewichtigen Milderungsgründen noch schuldangemessen, ansonsten Freiheitsstrafe
- Ab einer Gesamtverkürzung von 1.000.000 €: eine zur Bewährung aussetzungsfähige kommt Freiheitsstrafe nur bei Vorliegen besonders gewichtiger Milderungsgründe in Betracht
Die steuerlich ermittelte Verkürzungshöhe wird damit – mittelbar – zum Angelpunkt der Strafzumessung, auch wenn sie nicht unmittelbar übernommen werden darf.
4.2 Strafprozessuale Anforderungen
Schätzungen, die der Strafzumessung dienen, müssen:
- vom Gericht eigenständig überprüft werden,
- sich auf eine tragfähige Tatsachengrundlage stützen,
- widerspruchsfrei und nachvollziehbar sein,
- dem Gebot des in dubio pro reo Rechnung tragen.
Fehlt es daran, ist eine strafschärfende Berücksichtigung unzulässig.
5. Rechtsprechung und Praxis
Die Rechtsprechung erkennt die Möglichkeit an, auf steuerliche Schätzungen zurückzugreifen, wenn sie mit eigenen Feststellungen des Strafgerichts untermauert werden. In der Praxis erfolgt häufig eine Zusammenarbeit zwischen Finanzbehörden und Strafverfolgungsbehörden, wobei die Ergebnisse aus der Betriebsprüfung oder einer Steuerfahndungsprüfung als Ausgangspunkt dienen.
6. Kritik und Diskussion
Die Schnittstelle zwischen Schätzung und Strafzumessung ist nicht frei von Kritik:
- Rechtsunsicherheit für Beschuldigte: Schätzungen können stark variieren.
- Belastung durch ungenaue Annahmen, obwohl das Strafverfahren eigentlich auf exakter Feststellung beruhen sollte.
- Gefahr der Umgehung des Zweifelssatzes, wenn Gerichte faktisch auf Schätzungen zurückgreifen, die nicht sicher bewiesen sind.
Fazit:
Die Schätzung von Besteuerungsgrundlagen im Veranlagungsverfahren kann nicht eins zu eins ins Steuerstrafverfahren übernommen werden – sie entfaltet aber mittelbar erhebliche Wirkung, insbesondere für die Strafzumessung.
Eine effektive Strafverteidigung in einem Steuerstrafverfahren beginnt daher mit bzw. umfasst auch das Veranlagungsverfahren, die insbesondere durch kooperative Zusammenarbeit zwischen Steuerberater und Strafverteidiger gedeihlich sein kann. Wie oben aufgezeigt, kann die Überschreitung von Schwellenwerten erhebliche Auswirkungen auf die Strafzumessung haben. Zwar haben die Gerichte eine eigenständige, strafprozessual tragfähige Prüfung der verkürzten Beträge vorzunehmen, die Praxis zeigt jedoch oft eine schnelle und nicht hinterfragte Übernahme von Schätzungen aus dem Veranlagungsverfahren. Schätzungen im Veranlagungsverfahren sollten daher nicht vorschnell und unüberlegt akzeptiert werden.